Wie Kirche mit einer Theologie der Arbeit in der säkularen Welt sprechen und handeln kann

Arbeiterpriester, Konzil, Schwerpunkt, Grenzdebatte: Der Pastoraltheologe Dr. Manfred Körber zeichnet sechs Jahrzehnte Entwicklung nach

Arbeiter (c) Bild von Janno Nivergall auf Pixabay

Eine heutige Theologie der Arbeit setzt produktiv ein kirchliches Projekt fort, das mit dem Lebensentwurf und der pastoralen Haltung der französischen Arbeiterpriester Mitte des vorherigen Jahrhunderts begonnen hat. Der Pastoraltheologe Dr. Manfred Körber skizziert in einem Beitrag für „arbeits.leben“ die Etappen von sechs Jahrzehnten Wirkungs- und Entwicklungsgeschichte.

Er macht Linien sichtbar, die 1980 zur Ausrufung des pastoralen Schwerpunktes „Kirche und Arbeiterschaft“ im Bistum Aachen führten. Und er erzählt, wie die Rede von den „Zeichen der Zeit“, welche die Kirche in der Welt der Menschen deuten soll, immer wieder aktualisiert werden muss. Auch heute kann die Kirche somit Positionen formulieren, die anschlussfähig sind an den Kampf von Gewerkschaften, den Einsatz sozialer Unternehmer und von Nicht-Regierungsorganisationen. Allerdings räumt er realistisch ein: Es ist trotz Rückenwinds durch Papst Franziskus weiter nur eine Minderheit in der Kirche, die sich in der Arbeitswelt engagiert.

Der hier dokumentierte Text entstammt der kleinen Schrift „Entspannt bleiben“, die Manfred Körber aus Anlass seines Abschieds aus dem Bischöflichen Generalvikariat Aachen herausgab. Dort arbeitete er 16 Jahre lang als Leiter der Abteilung „Grundfragen und -aufgaben der Pastoral“. Seit 2018 ist der Pastoraltheologe Leiter des Nell-Breuning-Hauses in Herzogenrath.

 

Vom Wert der Arbeit

„Eine Gesellschaft, die sich dem Skandal des gefolterten Menschenkörpers aussetzt, bekommt ein Gespür für die Zerbrechlichkeit des Daseins und wird erkennen, wie sinnlos es ist, die Götzen der kapitalistischen Freiheit anzubeten.“ (Terry Eagleton)

Wenn die Kirche Glaubensraum des vermissten Gottes ist und dieses Verständnis konstitutiv für ihr Handeln ist, dann führt sie der Weg unmittelbar in die Gesellschaft – unter anderem in die Arbeitswelt. Nun folgt die Praxis selten der Theorie. Dennoch, im Bistum Aachen hat der damalige Bischof Dr. Klaus Hemmerle erkannt, wie wichtig eine lebendige kirchliche Praxis in der Arbeitswelt für die gesamte Pastoral ist. So verkündete er 1980 für das Bistum den Pastoralen Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ mit den Worten: „Ein Grundideal von Kirche - und nicht nur ein Ideal, sondern ein Grundauftrag von Kirche besteht darin: jeder muß jeden anderen in sich tragen. Und jeder muß, indem er den anderen konkret in sich trägt, das Ganze in sich tragen … Warum, ist innerhalb dessen nun die Frage, ist ein besonderer Schwerpunkt von Kirche und Arbeiterschaft notwendig? Einmal um der Kirche willen, weil die Kirche hier den Testfall hat, ob wir wirklich das, was wir verkünden, auch ernst meinen ... Umgekehrt ist es aber auch gerade so, daß es die Arbeiterschaft Kraft der Dinge ... in ihrer konkreten geschichtlichen Situation besonders schwer hat und meiner Meinung nach schwerer als alle anderen Gruppen, sich beheimatet zu fühlen in der Kirche."

Hemmerle knüpft an die Vorgeschichte des II.Vatikanischen Konzils an, das ja als ein Konzil gewürdigt wird, in dem die katholische Kirche ihr Verhältnis zur Welt grundsätzlich neu konstituiert hat. Einen zentralen Impuls dazu lieferte die Auseinandersetzung in der Arbeitswelt durch die französischen Arbeiterpriester. Im Vorwort zum „Tagebuch eines Arbeiterpriesters“ schreibt Hanns Lilije: „Für den Verfasser dieser Tagebücher enthielt diese Zeit der Prüfung zunächst eine weitgehende Entmythologisierung seiner eigenen Kirche. Mit schlichten Worten: Er lernte, wie wenig von dem zur wahren Kirche hinzugehört, was gemeinhin in seiner Kirche – wie auch in anderen – dazu für erforderlich gehalten wird.“  Begleitet wurden die Equipen der Priester, die sich im französischen Arbeitermilieu der 1950er und 60er Jahre verwurzelten, u.a. durch die Konzilstheologen Ives Congar und Marie Dominique Chenu. Deren im Diskurs mit den Arbeiterpriestern gewonnenen theologischen Kategorien wurden prägend für das Weltverständnis des Konzils – im Zentrum stand die Gnadentheologie.

Chenu publiziert mehrere Beiträge zur Spiritualität und Theologie der Arbeit, in denen er das Wirken Gottes inmitten der menschlichen Natur und Geschichte anhand der Erwerbsarbeit verortet. „Die Arbeit, die einen so großen Teil der menschlichen Aktivität besetzt, die einen so wichtigen Platz im persönlichen Schicksal und in der kollektiven Organisation unseres Lebens einnimmt, bildet ein privilegiertes Material für diese Innervation der Gnade.“  Daraus folgt, dass eine konsequente theologische Berücksichtigung der Erwerbsarbeit als „Zeichen der Zeit“ zur Konkretisierung einer heutigen Gnadentheologie entscheidend beitragen kann.

Das Erkennen und Deuten der „Zeichen der Zeit“ gilt als ein zentrales Moment der Theologie des II. Vatikanischen Konzils (Gaudium et spes 4). Dabei ist, wie Stephanie Klein herausgearbeitet hat, die Rede von den Zeichen der Zeit und ihrer Deutung faszinierend wie rätselhaft zugleich. Die Wirkungsgeschichte des Konzils führt mitten hinein in die Debatte, inwiefern mit dieser Formel ein Ortswechsel der theologischen Erkenntnis und diakonisch-pastoralen Praxis gemeint ist.  Den aktuellsten Debattenbeitrag dazu leistet Papst Franziskus, in dem er betont, dass der „Mensch die Freiheit hat die Dinge zu beurteilen. Doch damit wir das tun können, müssen wir das zu Beurteilende auch kennen.  Die Kirche bezeichnet das als das ,Erkennen der Zeichen der Zeit‘. Denn die Zeiten ändern sich. Und es gehört zur christlichen Weisheit dazu, diese Änderungen wahrzunehmen und zu versuchen, zu verstehen, was das Ganze soll.“ Nach Ansicht des Papstes ist dies nicht nur Aufgabe einer Kultur-Elite, von Wissenschaft oder Professoren, sondern jeder Gläubige muss um ein Glaubensleben angesichts der Zeichen der Zeit ringen. „Jesus habe nicht gesagt, man müsse auf Universitätsleute und Doktoren schauen, vielmehr habe der Herr auf die einfachen Menschen hingewiesen, die die Spreu vom Weizen trennen könnten.“

Ebenso wie die Formel von den Zeichen der Zeit hat das theologische Laboratorium der Auseinandersetzung mit der Arbeitsgesellschaft, den Dreischritt „Sehen-Urteilen-Handeln“, als Methodik pastoralen Handelns hervorgebracht. Auch hier ist Chenu ein wichtiger Vermittler zur Konzilsagenda. Er engagierte sich in der von Joseph Cardijn gegründeten Jeunesse Ouvriere Chretienne (Christlichen Arbeiterjugend). Das Interesse von Cardijns Bewegung galt der Situation junger Arbeiterinnen und Arbeiter im Geflecht von Familie, Wohnviertel, Arbeitsplatz und Freizeit. Wie kann Gott hier verkündet werden, so lautete seine Frage. Beim Konzil eröffnete Kardinal Cardijn die Diskussion in der Konzilsaula über die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“. Das spätere Dokument folgt der Methode des Dreischritts „Sehen-Urteilen-Handeln“.  Aus heutiger Sicht stellen sich in Bezug auf die Methode viele erkenntnistheoretische Fragen, u.a. ob ein Sehen ohne Urteilen. ohne ein a priori vorhandenes erkenntnisleitendes Interesse überhaupt möglich ist. So hält auch hier, wie bei den Zeichen der Zeit, die Rezeptionsdebatte an. Heute wird die Methode „Sehen-Urteilen-Handeln“ als zirkulärer Prozess verstanden, der immer wieder von neuem anfängt.  Auch die Umsetzung des Handelns muss in ihren Wirkungen wahrgenommen, beurteilt und gegebenenfalls – handelnd – ergänzt werden. Ohne diese Kontinuität verliert die Methode ihre Schlagkraft. Denn der Dreischritt Sehen–Urteilen-Handeln ist an sich letztlich eine Haltung. Der methodische Teil ist somit nur die sichtbar werdende Umsetzung dessen, was aus dem zugrunde liegenden Menschenbild folgt. 

Es war eine Minderheitenbewegung in der Kirche, die in der Arbeitswelt einen kirchlichen Praxis- und Reflexionsort sah. Umso interessanter ist, dass diese Auseinandersetzung zu einem höchst innovativen Moment der neueren Kirchengeschichte wurde und nachhaltig das heutige Welt-Kirche-Verständnis prägt. Gilt diese Würdigung nur in der historischen Betrachtung oder ist die Auseinandersetzung mit der Arbeitsgesellschaft auch heute noch ein besonderer Ort kirchlicher Praxis und theologischer Kategorienbildung? Hat angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen eine arbeitsweltorientierte Sozialpastoral wirklich Zukunft?

Papst Franziskus lässt es nicht an klaren Worten mangeln, wenn er in „Evangelii Gaudium“ provokant anklagt, dass, „Diese Wirtschaft tötet“ und er für ein Handeln gegen diese Tötungspraxis plädiert - für eine Praxis, die die Götzen der kapitalistischen Freiheit entlarvt.

In diese Richtung weist auch die Einführung des Welttages der Armen, den Papst Franziskus zum Abschluss des Heiligen Jahres der Barmherzigkeit bekanntgegeben hat.  Als Welttag der Armen wurde von ihm der 33. Sonntag im Jahreskreis festgelegt. Das ist der vorletzte Sonntag im kirchlichen Kalender, eine Woche vor dem Christkönigsfest. Für den Papst wird dieser Tag „die würdigste Vorbereitung für die Feier des Christkönigssonntags sein, denn Jesus Christus hat sich mit den Geringen und den Armen identifiziert und wird uns nach den Werken der Barmherzigkeit richten (vgl. Mt 25,31-46).“ Und der schreibt Papst weiter: „Es wird ein Tag sein, der den Gemeinden und jedem Getauften hilft, darüber nachzudenken, wie die Armut ein Herzensanliegen des Evangeliums ist und dass es keine Gerechtigkeit noch sozialen Frieden geben kann, solange Lazarus vor der Tür unseres Hauses liegt (vgl. Lk 16,19-21). Dieser Tag wird auch eine echte Form der Neuevangelisierung darstellen (vgl. Mt 11,5), durch die das Antlitz der Kirche in ihrer ständigen pastoralen Umkehr erneuert wird, um Zeugin der Barmherzigkeit zu sein.“

So versucht Papst Franziskus die Gerechtigkeitspraxis in der katholischen Kirche neu zu verankern. Sein Fokus liegt nicht primär auf mildtätigem Handeln, sondern auf der Suche nach einer neuen Gesellschaftsordnung. Er fordert die Katholiken zu politischem Engagement auf: „Nicht für die Macht, sondern um die Mauern der Ungleichheit zu beseitigen“.  Veränderungen in der Arbeitswelt – der kapitalistischen Ordnung - räumt er, zusammen mit der Klimapolitik, eine Schlüsselstellung ein.

Trotz dieses Rückenwinds aus Rom ist es auch heute in den entwickelten Industriegesellschaften aber nur eine Minderheit in der Kirche, die sich in der Arbeitswelt engagiert, und die Gruppe wird wohl noch kleiner werden. Aber ähnlich wie in den 1960er Jahren liegt auch heute hier ein theologisch höchst innovatives Feld. Die neuere Entdeckungsgeschichte hat gerade erst begonnen.

Der Fundamentaltheologe Ansgar Kreutzer spannt die Dynamik einer „Theologie der Arbeit für heute“ zwischen zwei Pole begrenzte Arbeit - entgrenzte Solidarität ein.  Er betrachtet drei Prozesse der Entgrenzung von Arbeit und deutet sie als „Zeichen der Zeit“: Erstens die Entgrenzung von  Arbeitskraft durch Subjektivierung - die ganze Persönlichkeit ist im Arbeitsprozess immer mehr gefragt; zweitens die Entgrenzung von Arbeitszeit durch Flexibilisierung - Ort, Dauer und Verteilung der Arbeitszeit stehen unter permanentem Verhandlungsdruck sowie drittens die Entgrenzung sozialer Sicherheit durch Prekarisierung –  existenzsichernde Bezahlung, Arbeitsverhältnisse und Vertragsbeziehungen erodieren. Für eine heutige Theologie der Arbeit schlussfolgert er, dass Arbeit heute mehr entgrenzt als entfremdet ist, dass es für eine Theologie der Arbeit heute weniger um eine theologische Bewertung bzw. Aufwertung der Arbeit geht, sondern um ihre Begrenzung. Kreutzer nennt vier theologische Kategorien, die den Prozess einer Begrenzung der Arbeit befördern können: Erstens die Götzenkritik, deren Anliegen es ist die ideologische Aufladung von Arbeit und der damit verbundenen Mythen zu entlarven; zweitens die Betonung der geschenkten Gnade, die herausstellt, dass Menschenwürde nicht der ökonomischen Verdienstlogik unterliegt; drittens Kontemplation als Unterbrechung einer Lebensführung, die immer stärker betriebswirtschaftlichen Kategorien unterworfen wird; viertens Solidarität, die der Individualisierung von Arbeit und Leben durch gemeinschaftliches Handeln entgegenwirkt.

Diese theologischen Kategorien sind anschlussfähig an den Kampf von Gewerkschaften, den Einsatz sozialer Unternehmer und von Nicht-Regierungsorganisationen weltweit. Mit ihnen korrespondieren konkrete Maßnahmen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, der Sonntagssschutz, Gemeinwesenökonomie, Nachbarschaftshilfe, betriebliche Resilienz etc. Sie zeigen, dass und wie Kirche in der säkularen Welt sprechen und handeln kann – insofern setzt eine heutige Theologie der Arbeit produktiv das Projekt der 1960er Jahre fort.

Quelle: Manfred Körber: Entspannt bleiben. Ein Beitrag zu theologisch verantworteter Leitung in der Kirchenkrise. 2018 einhard verlag gmbh, Aachen