Wenn das Schicksal von Menschen und einer Stadt strategischen Kapitalinteressen geopfert wird

Solidaritätsadressen, Solidaritätsaktionen, Solidaritätsorte. Katholik*innen standen traumatisierter Belegschaft des Conti-Werks Aachen bei

Continental (c) Bild von Photomat auf Pixabay

Das hat die ganze Städteregion Aachen kalt erwischt: Continental will das Aachener Reifenwerk 2021 schließen. 1800 Beschäftigte sind von dieser Absicht betroffen. Die ganze Region ist in Aufruhr, niemand möchte das so einfach hinnehmen. Auch kirchliche Solidaritätsadressen sind vernehmbar.

Entsetzen, Fassungslosigkeit, Zorn prägen das Bild. So äußern sich auch Geschäftsleitung und Betriebsrat des Nell-Breuning-Hauses. Sie boten dem Betriebsrat des Werkes per Brief Unterstützung an. Betriebsschließungen habe es schon viele in der Region gegeben, aber: „Die Art und Weise, mit welcher Kaltschnäuzigkeit vonseiten der Konzernleitung hier vorgegangen wird, sucht ihresgleichen.“ Das Nell-Breuning-Haus setze sich für ein Wirtschaften ein, das der Gesellschaft diene, für eine Arbeit, die gutes Leben ermögliche, und für eine Region, die Zukunft biete für die nächsten Generationen. „Wenn Konzerne so handeln wie jetzt Continental, bleibt davon nichts übrig. So werden die Fundamente für eine Gesellschaft gelegt, in der nur noch der Profit zählt, Arbeit nichts mehr wert ist und die Region keine Zukunft mehr hat.“

Nach aktuellem Kenntnisstand könne die Schließung des Werkes angesichts dort geschriebener schwarzer Zahlen nicht nachvollziehbar erklärt werden, schreiben Betriebsseelsorge im Bistum, Bischöfliche Kommission Kirche und Arbeiterschaft und Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) in einer gemeinsamen Solidaritätsadresse. „Höhere Renditeerwartungen rechtfertigen keinesfalls, Arbeiterinnen und Arbeitern und ihren Familien ihre Existenzgrundlage zu entziehen. Wir sind der festen Überzeugung, dass der Mensch und sein Arbeitsplatz stets Vorrang vor dem Kapital haben müssen – die Sorge um die Menschen steht im Mittelpunkt.“

Die KAB legte mit einem offenen Brief an den Aufsichtsrat der Continental AG nach, mit der Forderung, das Werk zu erhalten. „Schöpfen Sie alle verfügbaren arbeitsmarktpolitischen Mittel aus! Nutzen Sie die tariflichen Möglichkeiten zugunsten einer Weiterbeschäftigung! Nehmen Sie sich Zeit, gemeinsam mit der zuständigen Gewerkschaft und den Betriebsräten Lösungen zu finden, die vom Gedanken der Verbundenheit und fairen Lastenverteilung geprägt sind und Perspektiven bieten!“

Manfred Körber, Leiter des Nell-Breuning-Hauses, bringt einen weiteren Gedanken in die regionale Diskussion ein: „Das Beispiel Conti zeigt erneut, wie wenig internationalen Konzernen am Gemeinwohl liegt. Das Schicksal von Menschen und der Stadt wird strategischen Kapitalinteressen geopfert. So ist das in unserer Wirtschaft.“ Das müsse sich ändern. „Ein Schritt in Richtung Zukunft wäre, wenn die Stadt Aachen und die Städteregion Teil der Gemeinwohlökonomiebewegung werden. Damit könnten die Weichen für eine andere Zukunft gestellt werden.“  

Ganz gleich, wie es mit dem Contiwerk in Aachen weitergeht: Die Würde von 1.800 Beschäftigten und die Lebensperspektiven ihrer Familien sind tief verletzt worden. Ihre Sorgen und Nöte vor Gott und Mitmenschen zu tragen, das Unrecht anzuklagen, das ihnen widerfährt, und Solidarität erlebbar zu machen, waren Ziele eines politischen Abendgebetes im Aachener Dom.

Dort, wo schon öfter die Bedrängnis von Menschen ihren Ort hatte, wie Gastgeber und Dompropst Rolf-Peter Cremer skizzierte, kamen zwei der 1.800 Betroffenen zu Wort. Veit Rzembcitzky berichtete, dass die Ankündigung, das profitable Werk zu schließen, alle Träume von einem sorgenfreien und aktiven Ruhestand im kleinen Häuschen und mit Wohnmobil zerstörte. Statt weiter solide dafür arbeiten zu können, blickt er zehn Jahren Hartz IV entgegen. Tief enttäuscht ist der langjährige Mitarbeiter, für ihn war Conti immer eine feste Bank, auf die er sich verlassen konnte, wie auch umgekehrt die Firma auf ihn zählen konnte.

Als zweite sprach Natalie als Tochter eines Conti-Arbeiters. Sie habe den Vater ihr halbes Leben lang nicht gesehen, denn er habe immer bei Conti geschuftet, war rufbereit Tag und Nacht, auch im Urlaub. Hart und lang habe er gearbeitet, all die Jahre, um seiner Familie ein schönes Leben zu ermöglichen. Nun erlebe sie den Mann, der immer stark war, völlig verzweifelt. Echte Dankbarkeit schwang in ihren Worten mit und sie würdigte ihren Vater: Von ihm habe sie kämpfen gelernt und das wolle sie nun auch. Beifall begleitete die bewegende Situation.

Nicht aufgeben, Mut zusprechen: Das taten auch die Veranstalter. Solidarität heiße, aufzustehen gegen das Imperium des Geldes, sagte Andris Gulbins für die KAB. Wenn sich Menschen wie Abfall fühlten, gebraucht und weggeworfen, stimme etwas nicht im Wirtschaftssystem. Unrecht, wie es schon der Prophet Amos acht Jahrhunderte vor Christus anprangerte, und das Umkehr erfordere, so der rote Faden beim politischen Abendgebet, vorgetragen von Dieter Spoo, Diözesanrat der Katholiken, und Anita Zucketto-Debour, Katholikenrat Aachen-Stadt.

Wir sind Gott nicht egal, schloss Pfarrer Hans-Georg Schornstein, ebenfalls vom Aachener Rat. Wir sind Gottes Ebenbild, und wo unsere Würde verletzt wird, werde auch seine verletzt und seine Botschaft werde in den Schmutz gezogen. Mit besten Wünschen für die anstehenden Verhandlungen und Demonstrationen schloss das Abendgebet, musikalisch gestaltet von Angelo Scholly an der Orgel der Kathedrale. Die Gäste verließen den Dom, gingen vorbei an seinem Zaun, wo Fotos von Laufschuhen an die kirchliche Solidaritätsaktion für Arbeitslose erinnerten. Dompropst Rolf-Peter Cremer gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass es nicht bei der Gefahr bleibt, dass Aachen in einem Jahr 1.800 weitere Schicksale in dieser Form zu beklagen habe.

UPDATE 17.12.

Auch in der Weihnachtszeit ging es weiter, wurde in einigen Situationen gemeinsam Stärke und Zusammenhalt gezeigt. Bei Conti wurde es arbeitstechnisch (auch und gerade trotz Corona) zum Jahresende hin zeitlich immer enger und somit war die „Sternenaktion“ ein wenig holprig - doch letztendlich hat sie funktioniert. In Zusammenarbeit wurden durch die Lebenshilfe Aachen ca. 500 Holzsterne hergestellt, welche mit einem Stempel „DU bist WERTVOLL“ gebrannt wurden. An diesem Stern hängt die Karte mit der Hotlin,e die ab 7. Januar 2021 aktiv ist. Drei volle Kisten mit Sterne gab die Aachener Betriebsseelsorgerin in Absprache mit dem Betriebsrat an der Pforte 4 bei Conti ab, von wo aus sie in die einzelnen Abteilungen hinein noch vor den Werksferien verteilt wurden. 

Dieser Text ist zusammengesetzt aus zwei Beiträgen vonThomas Hohenschue, die erstmals in der KirchenZeitung für das Bistum Aachen, Ausgaben 39/2020 und 40/2020, veröffentlicht wurden, sowie einem Update seitens Betriebsseelsorgerin Ursula Rohrer.