Den Strukturwandel im Rheinischen Revier mit den Menschen gemeinsam gestalten

Wie Kirche im Bistum Aachen durch die Erosion der alten Mittelklasse herausgefordert ist und was sie dabei tun kann – Ergebnisse eines Studientags

Aufzug (c) Bild von jacobcook auf Pixabay

Wohin entwickelt sich der pastorale Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ im Bistum Aachen? Auf die gemeinsame Grundlage der christlichen Sozialethik können sich die Akteure sicherlich rasch verständigen. Aber auf welches Bild und welche Analyse der Gesellschaft fußen ihre Arbeit und ihre Konzepte? Bei einem Studientag am 14. Januar 2021 lotete die Bischöfliche Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ Perspektiven für die künftige Ausrichtung aus.

Eines ist klar: Die klassische Rede von der Industriegesellschaft gilt nicht mehr. Die Ausbildung der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft hat bereits vor Jahrzehnten eingesetzt und gewinnt im Zuge der umfassenden Digitalisierung an Dynamik. Wie sich dieser tiefgreifende ökonomische Wandel in den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung niederschlägt, sucht nach Erklärungen und Beschreibungen. Wie spricht man über das diffuse, ausgesprochen plurale Geschehen?

Die Rede von der hochgradig segmentierten Gesellschaft, konkret von den Milieus, war so ein Versuch. Für eine ethisch orientierte Arbeit mit Menschen, die Ausgrenzung oder Benachteiligung in ihrer Lebens- und Arbeitswelt erfahren, ist die Milieu-Folie als strategische analytische Grundlage aber eventuell gar nicht so zielführend. Wenn nämlich die Gesellschaft in unverbundene Milieus zersplittert ist, wo liegt dann der Ansatz für eine übergreifende Anwaltschaft?

Vielleicht muss man zu alten Begriffen zurückkehren, um das Neue in Worte zu fassen und den eigenen Umgang damit eine prägende Richtung zu geben. Ein solches altes Wort könnte das der „Klasse“ sein. Nicht im Sinne der marxistischen Unterscheidung, ob jemand Kapitaleigner an Produktionsmitteln ist oder nicht. Sondern eher an der Unterscheidung, wie Einkommen, Status und soziale Sicherheit verteilt sind. So wie es zum Beispiel der Soziologe Andreas Reckwitz tut.

Von seinen Kriterien und Typologien hat sich die Bischöfliche Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ beim Studientag anregen lassen. Grob unterteilt Reckwitz 99 Prozent der deutschen Bevölkerung in neue Mittelklasse, alte Mittelklasse und Unterklasse. In die neue Mittelklasse sortiert er die Gewinner des wirtschaftlichen Strukturwandels ein, mit hoher Bildung, hohen Einkünften, hoher Mobilität, hohem Status, einem Habitus, der sie abgrenzt von den beiden anderen Klassen.

Die alte Mittelklasse ist die frühere, etwa der Facharbeiter, der brav und hart arbeitenden Menschen, die sich durch persönlichen Einsatz bescheidenen Wohlstand und soziale Sicherheit erwirtschaften, mit einem kleinbürgerlichen Habitus. Sie schmilzt dahin, durch Aufstieg und durch Abstieg. Ihr eigenes Lebensmodell und Selbstverständnis ist erheblich unter Druck geraten. Die bedrängende Situation der Unterklasse zeigt, dass der Abstieg nicht nur möglich, sondern reelles Risiko ist.

Die Unterklasse wächst, mit der Ausweitung niedrig entlohnter, sozial wenig gesicherter Beschäftigungsverhältnisse. Immer mehr Menschen rutschen in eine Situation hinein, dass sie ihr Leben nicht verlässlich finanzieren können. Das betrifft nicht nur die viel zitierten Paketboten, sondern zum Beispiel auch gering bezahlte Pflegekräfte. Die gesellschaftliche Geringschätzung gesellschaftlich wichtiger Arbeit wirkt sich hier konkret in prekären Lebensperspektiven aus.

Welche Schlussfolgerungen lassen Analyse und Beschreibung von Andreas Reckwitz für die Arbeit im pastoralen Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ zu? Zunächst einmal: Von Hochschulstandorten und den Speckgürteln um die Rheinschiene abgesehen, überwiegen in der Bevölkerung auf dem Gebiet des Bistums Aachen die alte Mittelklasse und die Unterklasse. Die Deindustrialisierung im Rheinischen Revier schreitet voran, der Strukturwandel fördert sowohl qualitativ gute Jobs als auch prekäre Jobs.

Die Auflösung der alten Mittelklasse fordert die Kirche im Bistum auf mehreren Ebenen heraus. Das kirchliche Leben wurde maßgeblich von dieser Klasse getragen, die Kirche erreicht die anderen Klassen kaum. Pastorale Experimente versuchen Brückenschläge in die neue Mittelklasse, etwa an den Universitäten. Die kirchliche Bindekraft für die alte Mittelklasse erodiert. Und für die Unterklasse fällt die Kirche jenseits weniger pastoraler und diakonischer Initiativen als Wegbegleiterin aus.

Fazit der Beratungen beim Studientag: Es braucht eine Besinnung auf das sozialpastorale Profil der Diözese, wie es 1980 durch die Ausrufung des pastoralen Schwerpunktes „Kirche und Arbeiterschaft“ geschärft wurde. Neue Elemente müssen es beleben und bereichern, etwa mit Blick darauf, dass die Abbruchprozesse der alten Mittelklasse die Akzeptanz der Demokratie untergraben, und auf die alles überlagernde Bedrohung durch den Klimawandel. Es braucht einen Ruck im Bistum Aachen.

Mögliche Antworten liegen in einer Kultur der Teilhabe, die befähigt und ermächtigt. Eine solche Haltung wird in Beschäftigungs-, Bildungs-, Beratungs- und Qualifizierungsprojekten der kirchlichen Arbeitslosenarbeit gelebt. Doch der Impuls geht weit über dieses Arbeitsfeld hinaus und verweist auf eine wichtige globale Aufgabe für die Kirche: den gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Umbruch mit den Menschen gemeinsam zu gestalten – vor Ort, in Dörfern, Vierteln, Städten.