„Wenn die Kirche das Feld Arbeit nicht beackert, dann wird sie noch mehr Menschen verlieren“

Renate Müller (c) Thomas Hohenschue

Renate Müller war seit der Gründung der Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ im Jahr 2006 Sprecherin der Kommission. In einem Interview zu ihrem Abschied am 30. Juni 2021 blickt sie zurück auf Erfolge und Schwierigkeiten und nennt einige Wünsche für die Zukunft. Die Fragen stellte Stefan Voges, Geistlicher Leiter der CAJ im Bistum Aachen.

Renate, wie bist du eigentlich in die Kommission gekommen?

Die Kommission wurde 2005 neu gegründet von Bischof Heinrich Mussinghoff. Sie war die Nachfolgerin der Projektgruppe, die ins Leben gerufen wurde, als Bischof Klaus Hemmerle [1980] für das Bistum Aachen den pastoralen Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ ausrief. Und die Gründung der Kommission lief auch nicht ohne Konflikte ab. Manche Mitglieder der alten Projektgruppe waren dagegen, weil sie mit der neuen Struktur nicht einverstanden waren. Ein Streitpunkt, auch zu Zeiten der Projektgruppe, war auch die Frage, ob der Caritasverband dazugehört oder nicht.

Ich bin in die neugegründete Kommission hineingekommen als Vorsitzende des Diözesanrats der Katholiken – natürlich mit meinem Hintergrund aus der CAJ und der KAB – und bin dann sofort Sprecherin geworden. Dahinter stand auch die Frage: Wer kann das machen, ohne gleich in die Konflikte der verschiedenen Träger hineinzugeraten? Die ersten Jahre haben wir uns da auf einem Minenfeld bewegt.

 

Wie hat die Kommission dann ihre Arbeit aufgenommen?

In Abstimmung mit dem damaligen Hauptabteilungsleiter, dem heutigen Dompropst Rolf-Peter Cremer, haben Hein Backes, damals Referent für Fragen der Arbeitswelt und Betriebspastoral im Generalvikariat, und ich uns auf die alten CAJ-Methoden besonnen: vom Leben ausgehen, auf das Leben einwirken. Wir haben einen kleinen Konsultationsprozess gestartet, sind zu Gruppen und Initiativen gereist und haben gefragt, was aus ihrer Sicht wichtig ist. Aus den Ergebnissen wurden dann Forderungen abgeleitet; dabei ging es um einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor, um die Frage nach einem Grundeinkommen und um Fragen der Rente und der sozialen Sicherung. Diese Aktion war ein Impuls für die Kommission.

2015 gab es dann eine Veranstaltung „40 Jahre Synodenbeschluss [Kirche und Arbeiterschaft] und 35 Jahre pastoraler Schwerpunkt“. Daraus entwickelte sich dann das Projekt „Theologie und Pastoral der Arbeit“ 

 

Was ist nach Deiner Erfahrung wichtig für die Zukunft?

Ich glaube, dass weiterhin die Perspektive „Vom Leben ausgehen – auf das Leben einwirken“ unheimlich wichtig ist. Schon der Titel „Kirche und Arbeiterschaft“ war in meinen Augen immer falsch. Wenn, dann hätte es heißen müssen „Arbeiterschaft und Kirche“ – von den Menschen her denken. Ich weiß nicht mehr, welcher Konzilsvater es gesagt hat: „Je mehr wir uns den Lebensfragen und Lebenshoffnungen der Menschen zuwenden, desto tiefer werden wir die Sendung der Kirche verstehen und entdecken.“

Das gilt für mich auch für die aktuelle Situation der Kirche: Wenn wir nicht die Perspektive der Opfer des Missbrauchs einnehmen, werden wir kein Vertrauen gewinnen. Mit dem Blick der Kirche – Wie kann Kirche wieder Vertrauen gewinnen? - wird das nicht funktionieren.

Und das gilt auch für das Nachdenken in der Pastoral und der Theologie: vom Alltag auf das Allgemeine, auf das Grundsätzliche kommen. Deshalb ist es mir auch so wichtig, dass wir in der Kirche dafür werben, dass Arbeit ein Gegenstand der theologischen Forschung wird.

Und dann geht es darum, vom Grundsätzlichen auf den Alltag einzuwirken. Das Ineinanderwirken von Erfahrung und Forschung und Theorie, darum geht es, auch in der Kommission. Sie darf sich weder im Kleinklein verlieren noch darf sie sich in irgendwelchen abgehobenen Sphären bewegen.

 

Kannst du dafür ein Beispiel nennen?

Zu Beginn des ersten Projekts „Theologie und Pastoral der Arbeit“ haben wir ein Treffen gemacht mit allen, die in Arbeitsloseninitiativen engagiert sind. Das war so eine „dichte“ Erfahrung, wie Menschen da über alltägliche Seelsorge und Pastoral geredet haben, mit welchem Gottvertrauen …

Es hat nicht immer alles geklappt, wie wir das geplant hatten, aber von dem Weg bin ich immer noch, auch auf Zukunft hin, überzeugt: immer wieder die Praxis reflektieren, daraus Konsequenzen ziehen und die Forschung damit konfrontieren.

 

Der Schwerpunkt „Kirche und Arbeiterschaft“ ist ja ein pastoraler Schwerpunkt. Wie kann sich die Pastoral heute diesen Fragen nähern?

Es geht aus meiner Sicht darum, zwei Dimensionen zusammenzubringen. Zunächst einmal: das Leben ernst nehmen. Und dann die andere Dimension, die beschreibt der Wiener Moraltheologe Matthias Beck in seinem Buch „Leben wie geht das?“ so: „Zum Menschen gehört die Suche nach dem letzten Grund.“ Und da, finde ich, müssten wir viel mehr Werbung machen für die CAJ-Methode „Lebendiges Evangelium“. Das ist nämlich genau das: das Leben betrachten mit der Bibel in der Hand. Da werden wir unglaublich phantasievoll werden und werbend auf die Menschen zugehen, weil wir damit an das Tiefste im Menschen rühren. Davon bin ich fest überzeugt.

 

Noch einmal zur Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“. Was, würdest du sagen, ist dir in deiner Zeit als Sprecherin gelungen?

Gelungen ist uns sicherlich, den Caritasverband selbstverständlich einzubinden. Damit haben wir es auch geschafft, dass das Caritas-Projekt „Integration durch Arbeit“ (ida) und der „Koordinationskreis Kirchlicher Arbeitsloseninitiativen im Bistum Aachen“ (Ko-Kreis) aus der Konkurrenz herausgekommen sind. Das war mir wichtig, dass wir unsere Kraft nicht für interne Kämpfe verschwenden. Man wird weiterhin darauf achten müssen, dass diese Gemeinsamkeit bleibt. Es wäre übrigens auch fatal, wenn die Kirche das Diakonische komplett an eine Einrichtung wie den Caritasverband delegieren würde. Damit würde man viel Kreativität und viele Initiativen ausgrenzen.

Insgesamt bleibt es wichtig, die Dinge offen anzusprechen. Dieser offene Austausch ist aber nur möglich, wenn es eine ständige Struktur gibt, in der Vertrauen untereinander selbstverständlich ist. Sonst kriegt man das nicht hin. Deshalb lohnt es sich auch, dafür zu kämpfen, dass bestimmte Strukturen bleiben. Gerade in schwierigen Zeiten sind Strukturen wirklich eine Stütze. Ohne Strukturen wäre Vereinzelung das Ergebnis.

 

Gab es etwas, was nicht funktioniert hat?

Natürlich. Es gab Zeiten, da sind nur wenige Mitglieder gekommen. Aber das hat sich auch wieder anders entwickelt. Im Nachhinein kann ich festhalten, dass es richtig war, nicht darüber zu jammern  „Warum kommen die nicht?“, sondern sich die Frage zu stellen „Wie machen wir die Arbeit so spannend, dass sie das Gefühl haben, etwas zu verpassen, wenn sie nicht kommen?“ Diesen Blickwinkel finde ich wichtig: Was für positive Ansätze gibt es?

 

Was war für dich der Gewinn der Kommission?

Sie ist, neben dem, was ich schon gesagt habe, eine Struktur, wo der Inhalt verortet ist: Wenn dieser Inhalt „Arbeit“ keinen Ort hat, wo er bearbeitet wird, dann fällt der weg! Der war immer randständig in dieser Kirche.

Der pastorale Schwerpunkt im Bistum Aachen wird oft gleichgesetzt mit Arbeitslosenarbeit. Das ist eine große Stärke. Ich glaube, es gibt keine andere Diözese, wo es von der Kirche her eine so starke ständige Begleitung von Menschen gibt, die langzeitarbeitslos sind. Die Kehrseite ist sicherlich, dass wir zu wenig die ganze Arbeitswelt im Blick haben.

Deshalb ist für mich auch das Projekt „arbeits.leben“ so wichtig, in dem wir über die Arbeitslosen hinaus auf die Arbeitswelt schauen. Die, die ganz unten sind, sind ja am ehesten Seismographen für das, was ansteht in der Gesellschaft. Aber wir müssen auch insgesamt die Arbeitswelt wieder stärker in den Blick nehmen. Wenn die Kirche das Feld Arbeit nicht beackert, dann wird sie noch mehr Menschen verlieren, als sie schon verloren hat.

 

Was wäre dein Wunsch: Worauf sollte die Kommission als nächstes ihr Augenmerk richten?

Mein Wunsch wäre, dass sich jedes Mitglied der Kommission zwei Leute sucht aus unterschiedlichen Feldern der Erwerbsarbeit, die sich dann auf einen Weg einlassen und überlegen, was Kirche in diesem Feld unterstützend tun könnte und wie Kirche lernen kann, wie Evangelisierung heute konkret geht. Mir ist wichtig, immer wieder neue Wege zu suchen, wie Praxis und Theorie miteinander in Verbindung kommen und sich gegenseitig bereichern, damit es für die Menschen zu einem guten Ergebnis kommt.

Wünschen würde ich mir natürlich auch, dass die Verantwortlichen und die Gremien im Bistum Aachen sagen, dass für die Zukunft Arbeit ein wichtiges Feld der Pastoral ist. Aber das wird wohl nicht passieren. Seit ich in diesem Feld aktiv bin, waren wir eigentlich nie im Fokus. (Außer wenn man uns in der CAJ vorgeworfen hat, wir seien zu links oder marxistisch …) Aber vielleicht ist das auch das Gute, dass wir so gezwungen sind, immer wieder für dieses Thema zu argumentieren.

Was ich mir auch wünschen würde: Dass wir mit einer CAJ-Methode wie „Lebendiges Evangelium“, die ja für dieses Feld der Pastoral geschaffen ist, dass wir damit mutiger umgehen und auch Leute damit konfrontieren. Frei nach Dostojewski – „Lest dem einfachen Volk die Bibel vor, sie werden sie verstehen“ – müssen wir viel, viel mutiger werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal den Hinweis geben auf den Beschluss der Würzburger Synode „Kirche und Arbeiterschaft“. Darin ist ein Abschnitt überschrieben mit „Aufbau einer christlichen Gemeinde vom Leben her“, und darin wird so ein Prozess beschrieben, wie das geht, christliche Gemeinde vom Leben her aufbauen. Das ist, glaube ich, viel zu wenig verinnerlicht worden.

 

Mit welchem Gefühl verlässt du nun die Kommission?

Mit einem guten Gefühl. Ich gehe in der Überzeugung, dass da Leute sind, die hoch engagiert sind. Die werden sicherlich vieles anders machen als ich, aber deshalb noch lange nicht schlechter.