Was tun, wenn sich politisch nichts in die richtige Richtung bewegt?

Von allein wird es nicht besser mit der desolaten Situation pflegender Angehöriger. So müssen die betroffenen Menschen sich selbst aufmachen, zusammen mit anderen. Quintessenz einer Online-Tagung in Herzogenrath

Brigitte Bührlen (c) NBH

Der Pflegenotstand ist da. Lange prognostiziert, lange diagnostiziert. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen baden die Fehlsteuerung dieses Bereichs der Daseinsfürsorge durch schlechte Gesetze aus. Fachleute warnen: Der jüngste Gesetzentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium verschärft die desolate Lage bloß und bleibt verantwortungsvergessen untätig gegenüber den krisenhaften Warnzeichen, die Stichworte wie Fachkräftemangel nur andeuten. Zugleich verschärft sich die Sprengkraft für das ganze Pflegesystem, weil unsere Gesellschaft rapide altert. Immer mehr Menschen brauchen Pflege, immer weniger können sie leisten und müssen sie finanzieren.

Edeltraut Hütte-Schmitz (c) NBH

Was tun? Das ist nicht nur eine Frage für Verbände und Institutionen, es geht alle an. Unwille und Unfähigkeit des Gesetzgebers, mehr Steuergelder in die Versorgung und Pflege von hilfsbedürftigen Menschen zu investieren, führen in eine gesellschaftliche Katastrophe, die auch nicht ohne Folgen für die deutsche Wirtschaft bleibt. Immer mehr Frauen und Männer, die sich um Angehörige kümmern, laufen mangels entlastender Infrastruktur in Überlastung und Überforderungen, die krank machen können. Auch die finanzielle Unterstützung fällt so gering aus, dass bei vielen am Ende Schulden und Armut warten, gerade bei Frauen. Folgeprobleme wie wachsende Altersarmut sind absehbar.

Martin Franke (c) NBH

Zeit für Pflege – Zeit laut zu werden

Wenn also niemand entschlossen gegensteuert, muss das machtvoll eingefordert werden. „Zeit für Pflege – Zeit, laut zu werden“ lautete folgerichtig der Titel einer Online-Fachtagung am 17. März 2023 im Nell-Breuning-Haus. Im Fokus standen dabei die Belange und Sichtweisen von pflegenden Angehörigen, die rege mitdiskutierten. Wie können sich diese vielen Menschen die Aufmerksamkeit der Politik erobern? Wie ist es zu schaffen, diese dazu zu bewegen, endlich die Weichen im komplexen und komplizierten Geflecht des Pflegesystems in die richtige Richtung zu stellen? Oder bleibt es weiter dabei, dass die ambulante und stationäre Pflege immer mehr in Richtung eines von Kostendämpfung und Profitstreben angetriebenen Wirtschaftszweigs abdriftet?

Brigitte Bührlen hat auf Basis reicher Erfahrung ihre eigenen Rückschlüsse gezogen. Sie wartet auf niemanden mehr, sondern treibt das Thema mit ihrer „WIR! Stiftung pflegender Angehöriger“ voran. Sie ermutigt Menschen, sich in ihren Regionen und Kommunen zu vernetzen, Vereine zu gründen, sich überall mit an die Tische zu setzen, wo es um das Zusammenleben geht, dabei konstruktiv-kritisch ihre Sichtweise einzubringen. Das fängt schon im Viertel, in der Nachbarschaft an. Überall leben Familien und Paare in dieser herausfordernden Situation. Offen über die eigenen Erfahrungen zu sprechen, hilft. Wo es in der Region oder Kommune Dialoge zum Beispiel zur Altenhilfe gibt, muss die Stimme der Pflegebedürftigen und pflegender Angehöriger mit am Tisch sitzen. Brigitte Bührlen bekräftigt die Chancen, die im demokratischen System liegen. Sie appelliert: Schreiben und sprechen Sie mit Ihren Abgeordneten, diese sind darauf angewiesen. Mit Eingaben und Petitionen erwirken Sie sogar einen verbindlichen Anspruch darauf, dass Sie gehört und Ihre Anliegen bearbeitet werden.

Anfangen vor Ort, in der Nachbarschaft, in der Region

Nun hat nicht jeder pflegende Angehörige soviel Zeit und Kraft dafür, immerhin sind Pflege, Beruf, Familie und soziales Leben alles andere als gut zu vereinbaren. Mancher sagt sogar: Das geht überhaupt nicht. Aber genau das ist ja auch das Problem, das es anzupacken gilt. Interessenvertretungen wie der Sozialverband VdK oder der Verband „wir pflegen! e.V.“ kämpfen auf allen Ebenen und an vielen Fronten für das, was sie aus Studien und eigener Erfahrung einbringen. Aus dem, was sie wissen, leiten sie Forderungen ab, die sie laut und leise an den richtigen Stellen platzieren. Zugleich geht es im Kern um ihre Hausmacht, die auf diesem Feld der Sozialpolitik so lange noch zu klein ist, wie sich die pflegenden Angehörigen nicht machtvoll vernetzen. Selbsthilfegruppen legen ihren Schwerpunkt meist weniger auf diese politische Dimension. In Ergänzung dazu braucht es also beherzte Akteure und Einzelpersonen, die das ungeliebte heiße Eisen anpacken und alle Handlungsmöglichkeiten vor Ort ausloten und auf die Tagesordnung heben.

Für die Aachener Region soll das gleich am 25. April 2023 um 18 Uhr im Nell-Breuning-Haus versucht werden.

 

Abschließende Infos

Veranstaltet wurde die Fachtagung am 17. März 2023 im Rahmen der Reihe „Zeit für Pflege“ von der Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ im Bistum Aachen, in Kooperation mit Nell-Breuning-Haus, kfd Diözesanverband Aachen, Katholische Betriebsseelsorge im Bistum Aachen und DGB Region NRW Süd-West. Sie griff das Anliegen des Equal Care Days auf, der für eine Aufwertung der Sorgearbeit eintritt.

Neben Brigitte Bührlen von „WIR!“ Stiftung pflegender Angehöriger“ referierten auch Martin Franke vom Sozialverband VdK in NRW und Edeltraut Hütte-Schmitz vom Bundesvorstand des „wir pflegen e.V.“ Grußworte sprachen Manfred Körber vom Nell-Breuning-Haus und Petra Löwenbruck vom Bundesvorstand der Katholischen Frauen-Gemeinschaft Deutschlands. Ann-Katrin Steibert vom DGB Region NRW-Süd-West moderierte. Und nicht zuletzt zeigte die Personal Trainerin Janine Hanrath, wie sich Pausen gesund durch Körperübungen gestalten lassen.