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Überlastete pflegende Angehörige, ausgebeutete 24-Stunden-Pflegekräfte, eine überbordende Bürokratie: Der Problemdruck im Bereich der häuslichen Pflege und Sorgearbeit wächst von Jahr zu Jahr. Erste politische Maßnahmen haben das Ruder nicht umreißen können. Es braucht angesichts des demografisch erwartbaren Zuwachses an pflegebedürftigen Menschen rasch eine große Reform, damit sich die Situation substanziell verbessert. Die Zeit läuft weg.
In dem Themenfeld bewegt sich das Bündnis „Wir machen Dampf“. DGB-Region NRW Süd-West, Katholische Betriebsseelsorge Aachen-Stadt und -Land, kfd Diözesanverband Aachen und Nell-Breuning-Haus trommeln gemeinsam für bessere Bedingungen. Im Bundestagswahlkampf 2021 überreichte es Kandidierenden neben Forderungen und Vorschlägen ein rotes Bügeleisen. Dieses brachte den politischen Handlungsbedarf auf den Punkt, pflegende Angehörige nicht plattzubügeln.
Jetzt gibt es neue Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und eine neue Chance, dass sich gesetzgeberisch substanziell etwas ändert. Claudia Moll (SPD) aus Eschweiler hat jetzt den Job der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung. Sie bringt als examinierte Pflegefachkraft ihre lebensnahe Expertise und Leidenschaft ein. Sie und Lukas Benner (Bündnis 90/Die Grünen), ein weiterer Bundestagsabgeordneter aus der Aachener Region, stellten sich dem Fachgespräch.
Dieses wies eine hohe Dichte an Diskussionsimpulsen auf, die gar nicht alle besprochen werden konnten, sondern die dokumentiert und nachgearbeitet werden. Zwei Quellen gab es dafür. Erstens profunde fachliche Perspektiven, die Referent Dr. Jonas Hagedorn vom Nell-Breuning-Institut in Frankfurt sowie Teilnehmende aus Organisationen und Initiativen im Gesundheits- und Sozialwesen einbrachten. Zweitens nicht minder aufschlussreiche Berichte von Angehörigen und Beschäftigten.
Hagedorn verdeutlichte, dass die Bundesrepublik in der Regulierung der häuslichen Pflege und Sorgearbeit manchen europäischen Nachbarn weit hinterherhinke. Es herrsche Anarchie bei den Organisationsformen, zu Lasten der Beschäftigten und Angehörigen. Häufig werde der Arbeitsschutz verletzt und der Mindestlohn unterlaufen. Man müsse bei der Bürokratie den Eindruck haben, dass sie bewusst so sperrig gestaltet sei, um abzuschrecken und so Transfergelder einzusparen.
Die Politik müsse ihre Fixierung auf Industriepolitik überwinden und erkennen, dass auch der personennahe Dienstleistungssektor ein Jobmotor sein könne, betonte Hagedorn. Da in der Arbeit mit Menschen aber die marktwirtschaftlichen Mechanismen einer steten Produktivitätssteigerung nicht greifen können, müssten Steuermittel in diesen Sektor investiert werden. So ließe sich nicht nur der skizzierte wachsende gesellschaftliche Bedarf stillen, sondern auch Beschäftigung schaffen.
Ein wichtiger Zukunftspfad liege in der Entwicklung und Stärkung von quartiersbezogenen Netzen der Sorgearbeit, sagte Hagedorn und fand dafür breite Unterstützung. Es braucht im Gemeinwesen vor Ort Kümmerer, die um alte und kranke Menschen herum einen Kranz von unterstützenden Hilfen koordinieren. Dazu gehören zum Beispiel Angehörige, hauptberufliche Pflegekräfte in Pflegediensten und Haushalten, ehrenamtlich engagierte Begleitpersonen, Beratungsstellen und Treffpunkte.
Die beiden Bundestagsabgeordneten versprachen, die ganzen Anregungen in ihre politische Arbeit in Berlin mitzunehmen. Claudia Moll stellte in Aussicht, dass sie an Bord sei, wenn es darum gehe, Pflege neu zu denken. Ein entsprechendes Paket werde bald vorgestellt. Angehörige bräuchten rasche Entlastung, finanziell wie organisatorisch. Als Beispiele nannte sie höhere Budgets für Hilfsmittel und die Förderung von „Pflegehotels“, die Urlaub mit Pflegebedürftigen ermöglichen.
Lukas Benner verwies auf die Erhöhung des Mindestlohns im Herbst 2022. Die Bürokratie abzubauen, sei ein zentraler Punkt auch im Bereich der Pflege, bekräftigte er. Häufig fehle es aber auch an einer guten Information über die bestehenden Rechte und Möglichkeiten, sagte Benner. Hier wollten die drei Koalitionspartner daran arbeiten, Formulare verständlicher und einfacher zu gestalten. Auch die unterstützenden Potenziale einer gut gemachten Digitalisierung nähme man in den Blick.
Am guten Willen wird es nicht scheitern, machte die Veranstaltung deutlich. Aber es wird Geld kosten und den Verhandlungserfolg, bisherige Schatten- und Schwarzmärkte zu regulieren. Neben den politisch Verantwortlichen sitzen Akteure wie Kranken- und Pflegekassen und andere Kostenträger und Interessenverbände am Tisch, betonte Claudia Moll. So klar die Richtung scheine, in die sich Sozialstaat und Sozialgefüge zu bewegen haben: Herbeizaubern lasse sich die Lösung nicht.
Das Bündnis „Wir machen Dampf“ bleibt an den drängenden Fragen der Angehörigen und Beschäftigten dran. Die Fachtagung lud eine Menge von Fragen und Forderungen ins Gepäck. Gewerkschaften können für eine Überführung der Beschäftigungsverhältnisse in tarifliche Standards trommeln. Und kirchliche Wohlfahrtsverbände können ihr Engagement mit tariflich ausgestalteten Agenturen verstärken, die Pflege- und hauswirtschaftliche Kräfte an Haushalte überlassen.