Die Zeit der Notlösungen muss ein Ende finden

Fachtagung der Bischöflichen Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ des Bistums Aachen beleuchtete die prekäre Situation im Pflegesektor

alt (c) Bild von Gundula Vogel auf Pixabay

Unser Gemeinwesen fußt auf dem Wert der Menschenwürde. Diesem Grundrecht umfassend Rechnung zu tragen, fordert Staat und Gesellschaft immer wieder stark heraus. Das gilt auch und in besonderem Maße in der Frage, wie pflegebedürftige Menschen betreut und versorgt werden. Hier prägen komplexe Hilfen, überforderte Angehörige und ausgebeutete Pflegekräfte das Bild.

Wie können Staat und Gesellschaft die Situation von betroffenen Familien verbessern? Die meisten verausgaben sich, damit der geliebte Mensch sein häusliches Umfeld nicht verlassen muss. Zu einem großen Teil Frauen schultern die zeitliche und emotionale Last, die mit dieser Sorgearbeit verbunden ist. Entweder als pflegende Angehörige oder als Live-in, als Pflegekraft, die im Haushalt mitlebt.

Bei einem Fachtag der Bischöflichen Kommission „Kirche und Arbeiterschaft“ im Bistum Aachen am 26. Februar 2021 loteten 50 Frauen und Männer Strategien aus, wie die Situation gerechter, humaner, solidarischer gestaltet werden kann. Bislang prägen Notlösungen das Szenario, es braucht jedoch systematischer Regelungen und einer finanziellen und gesellschaftlichen Aufwertung der Sorgearbeit.

Nicht erst seit Corona rückt die Situation in der Pflege in den Blick. Mehrere Trends zeigen hohen Handlungsbedarf auf: Immer mehr Menschen bedürfen der Pflege. Zugleich gehen demnächst viele hauptberufliche Pflegekräfte in den Ruhestand. Die Babyboomer kommen in die Jahre. Die Schere zwischen Bedarf und ausgebildeten Fachkräften wächst dramatisch. Was tun?

Es braucht umfassende Lösungen, wie Kommissionssprecher Harald Hüller, Hauptabteilungsleiter Pastoral/Schule/Bildung, am Beispiel der Live-ins verdeutlichte. Um die Würde der pflegebedürftigen Person zu wahren, werde durch schlechte Arbeitsbedingungen die Würde der Pflegekraft verletzt. Und in der Folge fehlen deren Zeit und Zuwendung der Familie in der Heimat, die sie als Wanderarbeiterin zurücklässt. Eine wahre Kette von Konsequenzen, ausgelöst von schlechten Regelungen.

Deutlich besser sieht die Situation von pflegenden Angehörigen aus, allerdings eher theoretisch. Denn praktisch steht ihnen zwar eine reiche Landschaft an maßgeschneiderten Hilfen gegenüber. Diese ist aber so komplex, dass nur speziell ausgebildete Expert*innen wissen, welche jeweils genutzt und miteinander so kombiniert werden können, dass eine wirkliche Entlastung eintritt. Glück, wer solche Anlaufstellen in seiner Region hat und kennt – die anderen haben bislang Pech.

Die Rede von „Deutschlands größtem Pflegedienst“ führe in die Irre, merkte Ann-Katrin Steibert vom Deutschen Gewerkschafts-Bund Region NRW Süd-West an. Pflegende Angehörige erführen weder einen angemessenen finanziellen Ausgleich für ihre Sorgearbeit noch hätten sie Anspruch etwa auf Erholungszeiten, auf Urlaub, auf Vertretung im Krankheitsfall. Ihren Einsatz unter einen Hut zu bekommen mit dem Beruf und weiterer Lebensgestaltung fordere ihnen enorme Kräfte ab.

Die Politikwissenschaftlerin und Autorin Antje Schrupp plädierte angesichts dieser Situation für einen ganzheitlichen Blick, gegen den Trend einer weiteren Liberalisierung und Ökonomisierung. Die Sorge für hilfsbedürftige Menschen sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Es brauche neue Regeln für alle Lebensbereiche, um ein gutes und würdiges Leben und Arbeiten für alle durchzusetzen. Als Prinzipien sollen hier Achtsamkeit, Verantwortung und Einfühlungsvermögen die Regie führen.

Bei der Beschäftigung von Live-ins leite Angehörige oft die Vorstellung, dass alles so bleiben könne, wie es war, skizzierte Verena Rossow vom Institut für Wirtschaft, Arbeit und Kultur der Universität Frankfurt am Main. Diesem häufig unrealistischen Ziel werde die Würde der häuslichen Pflegekraft untergeordnet, diese müsse sich anpassen, sei häufig genug den Launen der pflegebedürftigen Person oder deren Angehörigen ausgeliefert, sei schlecht bezahlt und schlecht abgesichert.

Was tun? Weiterhelfen kann hier zunächst der Gesetzgeber, indem er diesen grauen Arbeitsmarkt besser reguliert, und zwar nicht nur national, sondern auch im Konzert mit den Heimatländern der Wanderarbeiter*innen. Andere Akteure wie Kommunen oder Pflegekassen können ihre Bemühungen verstärken, Rat suchende Familien durch den Dschungel an Hilfen und Ansprüchen zu lotsen. Auch Unternehmen können ihren Beitrag leisten, zum Beispiel Dienstvereinbarungen zur Entlastung betroffener Beschäftigte abschließen und innerbetriebliche Expertise aufbauen.

Viele Anknüpfungspunkte für eine weitere Beratung in der Bischöflichen Kommission und unter den Kooperationspartnern. Auch Ansätze, die das Leben im Alter auf der Ebene des Sozialraums wieder stärker in das Leben der Gesellschaft integrieren, weisen in gute Richtungen. Aber auch hier gilt wie in anderen Aspekten des vielschichtigen Themas: Allein auf Angehörige und auf Ehrenamtliche darf die Zukunft nicht bauen, es braucht professionelle Fachkräfte, gut entlohnt und gut abgesichert, mit würdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die Zeit der Notlösungen muss ein Ende finden.

 

Info

Der Fachtag „Zeit für Pflege“ am 28. Februar 2021 stand im Zusammenhang mit dem „Equal care day“, einer bundesweiten Initiative zur Aufwertung der Sorgearbeit. Veranstaltungen und Aktionen thematisierten Ungerechtigkeiten und überkommene Rollenverteilungen. Neben der klassischen Familien- und Hausarbeit stand dabei auch die häusliche Pflege im Mittelpunkt des Interesses.

Als Veranstalter des Fachtags zeichnete die Bischöfliche Kommission „Kirche und Arbeiterschaft im Bistum Aachen“ des Bistums Aachen verantwortlich. Als Kooperationspartner an Bord waren das Bistum Aachen, die katholische Betriebsseelsorge, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands kfd und das Nell-Breuning-Haus.