Das Unrecht sichtbar machen, das unseren Wohlstand begründet

Überall arbeiten Menschen aus Osteuropa zu unwürdigen Bedingungen. Beratung und Verhandlungen allein helfen nicht

Baustelle (c) Bild von joffi auf Pixabay

Der Wohlstand in Deutschland: Ganz wie in kolonialen Zeiten wird er auf dem Rücken von Menschen erwirtschaftet, die unter ausbeuterischen Bedingungen für beschämend wenig Geld für uns arbeiten. Das billige Fleisch im Supermarkt, zügig hochgezogene Großbaustellen, üppige Spargelernten, günstige Gastronomie, unübersehbare LKW-Flotten auf den Autobahnen, unsichtbare 24-Stunden-Pflegekräfte in Privathaushalten: All dieses würde es vermutlich nicht geben, wenn Unternehmen und Auftraggeber nicht die rechtlichen Grenzen und Grauzonen bei der Wanderarbeit bis ins Illegale und Illegitime hinein ausreizten und Politik und Gesellschaft sie gewähren ließen.

Eine wachsende Sensibilität in der Öffentlichkeit führt zu ersten Fortschritten bei der Regulierung unrechtmäßiger Verhältnisse, aber der Weg ist noch weit, bis in Europa und in Deutschland soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit einzieht. So markierte Dr. Manfred Körber vom Nell-Breuning-Haus am 7. Dezember 2021 den Ausgangspunkt eines Abends, der sich mit der immensen Ausbeutung und Entrechtung osteuropäischer Arbeitskräfte beschäftigte. Mehr Öffentlichkeit für die skandalösen Verhältnisse zu schaffen, scheint ein Hebel für Kirchen, Gewerkschaften und Verbände zu sein, politisch etwas zu bewirken. Dafür gilt es zunächst, den eigenen Blick zu schärfen dafür, wie die Situation in den verschiedenen Branchen aussieht, wie bei diesem Fachabend.

Beste Kenntnisse aus zahllosen Gesprächen, Situationen, Verhandlungen kann hier Szabolcs Sepsi vom DGB-Projekt „Faire Mobilität“ beisteuern. Er arbeitet als Regionalleiter Mitte am Beratungsstandort in Dortmund. Und hat dort mit dem Team in erster Linie mit Beschäftigten aus Osteuropa zu tun, vor allem aus der örtlichen Fleischindustrie sowie aus der Bau- und der Logistikbranche. Bei den Beratungsgesprächen in elf Landessprachen dreht es sich meist um existenzielle arbeitsrechtliche Probleme. Löhne werden nicht ausgezahlt, Überstunden nicht vergütet, Nacht- und Wochenendzuschläge nicht entrichtet. Bei Krankheit gibt es keine Lohnfortzahlung. Arbeitsunfälle und Krankheit sind oft nicht versichert, wenn die Beschäftigten ohne ihr Wissen nicht als Angestellte angemeldet wurden. Besonders prekär stellt sich die Lage dar, wenn an den Job auch noch die Unterbringung in einer überteuert vermieteten Unterkunft gekoppelt ist.

In der individuellen Beratung klärt das Team von „Faire Mobilität“ die Beschäftigten über ihre Rechte und Möglichkeiten auf, versucht ihre Ansprüche und Interessen außergerichtlich durchzusetzen. Sollte das nicht zum Ziel führen, unterstützt das Team bei der Erstellung einer gerichtlichen Klage. Eine gründliche Information der Betroffenen ist das A und O, um das Schlimmste zu verhindern. Es gibt Broschüren in den besagten elf Landessprachen, im Netz stellt „Faire Mobilität“ entsprechende Erklärvideos und Audioschnipsel bereit. Denn nicht jeder kann und möchte so viel lesen. Und doch, so wurde an dem Abend mit Szabolcs Sepsi auch klar, kann es nicht allein Sache der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sein, sich gegenüber Unternehmen und Auftraggebern zu behaupten. Das Recht muss ihnen zur Seite stehen, flankiert durch staatliche Kontrollen, selbst gewählte betriebliche Interessenvertretungen und zivilgesellschaftliche Organisationen.

Die Herausforderung ist groß, bei allen Fortschritten, die zwischenzeitlich sowohl auf europäischer als auch auf deutscher Ebene festzustellen sind. Am Beispiel der Baubranche zeichnete Szabolcs Sepsi bei der Veranstaltung am 7. Dezember nach, wie staatliche und tarifliche Schutzabsichten und Schutzvorschriften mit verschachtelten Strukturen von Subunternehmen ausgehebelt wurden und zum Teil weiter werden. Die Kette reiche bis zu sieben, acht Ebenen weit und an ihrem Ende stecken dann doch wieder die einzelnen Handwerker und Arbeiter, als scheinselbstständige Einmann-Unternehmen. Die Verantwortlichen in den Generalunternehmen hätten selbst keinen Überblick mehr, wer auf ihren Baustellen zu welchen Bedingungen arbeitet, so die Erfahrung des Beraters. Sie haften allerdings neuerdings, wenn der Mindestlohn nachweislich unterschritten wird. Das bringt manches in Bewegung, braucht aber wohl weitere gesetzgeberische Initiativen.

Öffentlicher Druck kann einiges bewirken. Bizarrerweise steht für diese Erkenntnis die Fleischindustrie Pate, die kürzlich weitreichende arbeitsrechtliche Regulierungen erfuhr. Dort werden jetzt alle Mitarbeitenden angestellt. Bizarr ist das insofern, dass die himmelschreienden Missstände seit Jahrzehnten bekannt waren. Erst die Coronaausbrüche in Produktionsstätten und Unterkünften beendeten die Praxis, schweigend oder auch wortreich wegzuschauen und nichts zu tun. Die neuen Regelungen lösen nicht alle Probleme, zumal die früheren Subunternehmen personell und logistisch in die Arbeitsorganisation der Fleischfabriken integriert wurden und eine hohe Fluktuation unter den Beschäftigten keine stetigen Verhältnisse ermöglicht. Unter diesen Bedingungen einen Betriebsrat zu etablieren, der neben der alten, kleinen Stammbelegschaft, auch die neuen alten Kolleginnen und Kollegen gut vertritt, werde vermutlich nicht einfach sein, schaute Szabolcs Sepsi nach vorne.

In anderen Branchen ist man aber längst noch nicht so weit. Informieren, mobilisieren, skandalisieren scheinen die Schritte zu sein, die Kirche und katholische Verbände im Netzwerk mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gehen können, um die Politik zum Handeln zu bewegen. Im Bistum Aachen gibt es solche Bündnisse bereits, etwa um den Verein „Respekt“ im Heinsberger Land gruppiert, der sich um Wanderarbeiter etwa in häuslicher Pflege und Landwirtschaft kümmert.

Vielen Menschen ist nicht klar, dass unser Wohlstand so stark darauf basiert, dass osteuropäische Frauen und Männer bei uns unter so schlechten Bedingungen leben und arbeiten müssen. Diese fügen sich oft aus Not in ihr Schicksal, versorgen aus der Ferne ihre Familien mit dem Geld, das sie in Deutschland verdienen. Zugleich verstärken sie damit die soziale und wirtschaftliche Schieflage in ihrer Heimat, denn dort fehlen sie als Fachkräfte und Mitglieder familiärer und nachbarschaftlicher Netzwerke. Diese schmerzliche Lücke wird dann wiederum durch den Einsatz prekär Beschäftigter aus Drittländern kompensiert, die dann wiederum dort fehlen. Und so weiter. So setzt sich das eine Unrecht mit einem anderen fort – ein Problem europäischer und weltweiter Dimension. Höchste Zeit, stärker als bisher Licht in das Dunkel dieser schlimmen Verhältnisse zu bringen und durch diese unbequeme neue Öffentlichkeit dazu beizutragen, dass sie sich verbessern.

 

Abschließende Info

Der Abend mit Szabolcs Sepsi beschloss eine siebenteilige Reihe von „Kolonialgesprächen“, welche das postkoloniale Erbe im heutigen Leben, Arbeiten, Wirtschaften beleuchtete. Die Veranstaltungen wurden in Kooperation von Nell-Breuning-Haus und Bischöflicher Akademie Aachen durchgeführt.